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Antidiskriminierungsstellen: Schlechterstellung nicht-ukrainischer Geflüchteter ist „Rassismus“

Antidiskriminierungsstellen: Schlechterstellung nicht-ukrainischer Geflüchteter ist „Rassismus“

Sofort eine Arbeitserlaubnis bekommen, in eine Wohnung ziehen dürfen, starke Solidarität der Politik und Gesellschaft erleben – was Menschen, die aus der Ukraine nach Deutschland geflohen sind, hier ermöglicht wird, bleibt anderen Geflüchteten jahrelang oder auf Dauer verwehrt, kritisieren Antidiskriminierungsstellen aus NRW, zwei darunter aus Dortmund.

Einen Ukrainer so viel bevorzugter zu behandeln als etwa einen Menschen aus dem Irak oder aus Afghanistan sei implizit Rassismus. Statt dessen müsse Deutschland „Sicherheit und Gerechtigkeit für alle“ bieten.

  • Der Schutzstatus von Geflüchteten aus der Ukraine ist durch eine EU-Richtlinie geregelt. Diese bewirkt, dass sie keinen Asylantrag stellen müssen. Darüber hinaus erhalten sie eine Aufenthaltserlaubnis, die es ihnen ermöglicht in Deutschland zu arbeiten, eine Ausbildung zu machen oder zu studieren. (Quelle arbeitsagentur.de/)

Umfangreich äußern die Antidiskriminierungsberater und -beraterinnen ihre Kritik in einem offenen Brief an die Landesregierung NRW „zur Ungleichbehandlung fliehender und geflüchteter Menschen und dem ihr zugrunde liegenden Rassismus“. 

31.01.2023

Sehr geehrte Mitglieder der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen,

stellen Sie sich vor, Sie sind Berater*in in einer Beratungsstelle, in der Menschen zu ihrem Asylverfahren oder zu Diskriminierung beraten werden. Sie sitzen vor einem Menschen, der nach Deutschland flüchtete und den Sie bereits seit mehreren Jahren kennen.

Dieser Mensch kämpft, denn er möchte arbeiten, möchte in eine Wohnung ziehen, möchte sich ein Leben aufbauen. Das wird ihm seit Jahren verwehrt. Er sitzt in einer Unterkunft, die er nicht sein Zuhause nennen kann, er kann seine Familie oft nicht erreichen, er darf nicht arbeiten, denn es ist verboten, und bei Behörden und Ämtern erfährt er nicht nur bürokratische Zurückweisung, sondern nicht selten auch Rassismus. Er war sich so sicher gewesen, dass Deutschland besser ist. –

Nun sieht er, wie Menschen aus der Ukraine fliehen. Genau wie er damals aus Afghanistan. Er sieht, wie sie unmittelbar eine Arbeitserlaubnis bekommen, in Wohnungen ziehen dürfen, ihre Universitätsabschlüsse anerkannt werden, ihre Kinder in die Schule schicken können und wie stark sich die Politik solidarisiert. Er sitzt vor Ihnen und fragt: „Warum werden wir nicht auch so behandelt? Warum gelten für uns andere Regeln? Sind wir nicht genauso Menschen?“

– Sie sitzen vor ihm, sollen ihn beraten. Was antworten Sie? Welche Antwort können Sie geben, die Sie mit Ihrem Gewissen vereinbaren können?

In genau dieser Situation befinden wir uns, Berater*innen, die in Beratungsstellen mit den Schwerpunkten Antidiskriminierung, Flucht, Migration und Asyl in NRW arbeiten. Wir beraten Menschen, die rassistische und weitere Diskriminierung erfahren und sind über das ganze Bundesland verteilt. Wir wenden uns an Sie, verehrte Mitglieder der Landesregierung in NRW. Denn wir stehen vor einer unvertretbaren Aufgabe:

Wir müssen Menschen erklären, dass die Ungleichbehandlung, die sie erfahren, politisch gewollt ist. Dass die Anwendung der Gesetze zu dieser rassistischen Diskriminierung führen.

 

Anlagen zu unserem Brief

Zu diesem Brief finden sich Anlagen. In den Anlagen zeigen wir Ihnen auf, wie sich diese rassistischen Praxen in unterschiedlichen Lebensbereichen fliehender und geflüchteter Menschen auswirken. Dabei beziehen wir uns auf juristische, institutionelle und individuelle Handlungspraxen, mit denen wir in den Beratungsstellen, in unserem Berufsalltag kämpfen.

Sie betreffen den Umgang mit Menschen auf der Flucht, bei ihrer Ankunft in Deutschland, ihrer Unterbringung, ihren Zugängen zu Arbeit und Bildung und im Alltag. (Wir erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit dieser Punkte und sind dankbar für jeden Hinweis auf weitere Ungleichbehandlungen.) Das Chancen-Aufenthaltsrecht, das unlängst verabschiedet wurde, möchte zwar die Kettenduldung abschaffen, aber es behebt die grundsätzliche Ungleichbehandlung von geflüchteten Menschen nicht. Zudem enthält es sogar Verschärfungen im Ausweisungs- und Abschiebungshaftrecht. Dies verurteilen wir aufs Schärfste.

Ungleichbehandlung zeigt sich im Vergleich

Die Ungleichbehandlung, die wir anprangern, zeigt sich in unserem Beratungsalltag vor allem, wenn wir den Umgang mit ukrainischen Geflüchteten im Vergleich zum Umgang mit anderen Geflüchteten beobachten: mit Drittstaatangehörigen, insbesondere Schwarzen Studierenden, die aus der Ukraine fliehen; mit Menschen of Color, insbesondere solche, die muslimisch gelesen werden und 2015 aus Syrien und 2021 aus Afghanistan flohen; mit Schwarzen und muslimisch gelesenen Menschen, die aus unterschiedlichen afrikanischen Ländern nach Europa flohen und fliehen, so sie es denn überhaupt nach Deutschland schaffen und nicht bereits unterwegs durch illegale Abschreckungs- und Rückdrängungsmaßnahmen der EU daran gehindert wurden und werden. –

Es ist kein Zufall, dass es sich bei denen, die besser behandelt werden, um Menschen handelt, die weiß und christlich gelesen werden und bei denen, die schlechter behandelt werden, um Menschen, die Schwarz und/oder muslimisch gelesen oder anders rassifiziert werden.

Rassismus hat eine Jahrhunderte währende Geschichte, deren Kontinuitäten sich in diesem politischen und gesellschaftlichen Handeln zeigen. Dies zu benennen ist uns ein wichtiges Anliegen. Denn derzeit werden Menschen, die von anti-Schwarzem Rassismus und anti-muslimischem Rassismus betroffen sind, systematisch die gleichen Rechte verwehrt. Das ist struktureller Rassismus. Und das muss strukturell abgebaut werden.

Umgang mit ukrainischen Geflüchteten als Paradigma

Ukrainischen Staatsangehörigen wird der volle Schutz für Kriegsflüchtlinge gewährt, womit der vereinfachte Zugang zu Integrationsmaßnahmen, zur Arbeitsaufnahme, zu Schulen und Universitäten einhergeht. Und das ist gut und richtig so. Deutschland zeigt im Umgang mit ukrainischen Geflüchteten, was es kann. Politik zeigt, was sie kann.

Dieser Umgang muss als Paradigma gelten, wie wir mit allen fliehenden und geflüchteten Menschen umgehen könnten und müssen. Ja, müssen. Dazu verpflichtet uns die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, das Recht auf Asyl und am Ende schlicht unsere eigene Menschlichkeit. 

Wir fordern Sie auf, den politischen Diskurs und Migrationspolitiken im Sinne einer menschenrechtspolitischen Haltung mitzugestalten, indem Sie zu den Ungerechtigkeiten der Ungleichbehandlung von geflüchteten Menschen sprechen und sich öffentlich dagegen positionieren. Wir brauchen Ihren politischen Willen für Veränderung, für die Beendigung rassistischer Praxen und für die Einhaltung von Menschenrechten.

Schließlich wird dies nicht die letzte Fluchtbewegung gewesen sein. Um in Zukunft die Ungleichbehandlung nicht fortzusetzen und die Menschenrechte rassismusärmer einzuhalten, müssen wir jetzt einen menschenwürdigen Umgang mit allen fliehenden und geflüchteten Menschen finden und etablieren.

Was wir mit diesem Offenen Brief erreichen wollen

Wir möchten, dass die Ungleichbehandlung sichtbar wird, dass sie abgebaut und ein Verständnis für den ihr zugrundeliegenden Rassismus aufgebaut wird. Denn auch das verstehen wir als Antidiskriminierungs-Beratungsstellen als Teil unseres (Bildungs-) Auftrags.

Die Macht zur Veränderung einiger der in den Anlagen zu diesem Brief detailliert aufgeführten Missstände liegt in Ihren Händen, weil sie auf Landesebene entschieden werden können. Andere nicht. Uns ist dennoch wichtig, diese Punkte zu benennen, weil sie sich direkt auf unsere Arbeit auswirken, die wir in NRW leisten und auch, um ein Gesamtbild der Problemlage zu zeichnen. Wir fordern Sie dazu auf, sich in Ihrem politischen Handeln dafür einzusetzen, dass auch auf EU-, Bundes- und kommunaler Ebene ein dringend nötiger Wandel eingeleitet wird. Bitte führen Sie innerparteilich und die politischen Ebenen übergreifend Gespräche. Setzen Sie das Thema Ungleichbehandlung fliehender und geflüchteter Menschen auf die Agenda!

Selda İlter-Şirin, Münevver Toktas, Clara Petersen, Gema Rodríguez Díaz & Gülgün Teyhani:stellvertretend für viele Antidiskriminierungs-Berater*innen aus den Beratungsstellen von:
– Train of Hope Dortmund e.V.
– Kurdische Gemeinschaft Rhein-Sieg/Bonn e.V., Siegburg
– ARIC NRW e.V., Duisburg
– GBB Gleichbehandlungsbüro Aachen
PLANERLADEN, Dortmund
– rubicon e.V., Köln
– Plan B Ruhr e.V., Bochum
www.offener-brief.org
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Erstunterzeichner*innen
Dieser Offene Brief und seine Forderungen werden von den folgenden Personen und Organisationen unterstützt:
– Prof. Dr. Karim Fereidooni / Ruhr-Universität Bochum
– Prof. Dr. Claus Melter / Fachhochschule Bielefeld
– Prof.’in Dr.’in Schahrzad Farrokhzad / TH Köln
– Prof.’in Dr.’in Susanne Spindler / Hochschule Düsseldorf
– Prof.‘in Dr.‘in Elizabeta Jonuz / Hochschule Hannover
– Prof.‘in Dr.‘in Yasemin Karakaşoğlu / Universität Bremen
– Prof. Dr. Werner Schiffauer / Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
– Merfin Demir / Terno Drom e.V.
– LAGM*A Landesarbeitsgemeinschaft Mädchen*arbeit NRW e.V.
– Landesarbeitsgemeinschaft Jungenarbeit NRW e.V.
– In-Haus Integrationshaus e.V. / Köln
– Mithu Sanyal / Schriftstellerin
– Şeyda Kurt / freie Journalist*in, Moderator*in, Buchautor* & Speaker*in
– Caro Frank / Trainerin für strategische Kommunikation in der Antidiskriminierungsarbeit
– Jasmin Mouissi / Trainerin, Beraterin & Referentin Anti-Rassismus, Rassismuskritik und
Empowerment

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